Dazu kam – für diejenigen, die Bleiberecht erhielten – der Verlust des Arbeitsplatzes: Das Ausländerrecht sah als einzige Möglichkeit zur Existenzsicherung die Selbstständigkeit im Rahmen von Klein(st)gewerbe vor. In der Folge wurden die Bildung von wirtschaftlichen, oft ethnischen Netzwerken, Selbstorganisation und die Gründung von Bürgerinitiativen und Vereinen für Beratung und Selbsthilfe zu »Überlebensstrategien«.
Dazu waren nicht nur Arbeitsmigrant*innen, sondern alle Ostdeutschen mit migrantischer Biografie insbesondere in den Jahren nach der Wiedervereinigung von einer Welle von Fremdenhass betroffen, die in Übergriffen wie beispielsweise in Rostock-Lichtenhagen gipfelten. Woher kamen – und kommen – solche Rassismus-Konjunkturen in Ostdeutschland?
Was bedeutete die Erfahrung von Fremd-Sein zusätzlich zu den tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformations- und Umbruchserfahrungen? Welche Formen von Selbstermächtigung halfen, diese prekäre Situation zu »überleben«?
Im offenen Gespräch mit drei Expert*innen und Zeitzeug*innen mit sehr unterschiedlichen (migrantischen) Biografien gibt die Veranstaltung auch dem Publikum Gelegenheit zum Austausch über persönliche und kollektive Erfahrungen.
Open Talk mit
Angelika Nguyen | Autorin, Filmjournalistin & Aktivistin 89/90+
Geboren 1961 in Ost-Berlin, erwarb Angelika Nguyen ihr Diplom als Filmwissenschaftlerin an der HFF in Potsdam-Babelsberg. 1989/90 war sie Aktivistin in der Vereinigten Linken. 1991 drehte und veröffentlichte Nguyen den Dokumentarfilm »Bruderland ist abgebrannt« über vietnamesische Immigrant*innen in Ostberlin. Sie publiziert Texte über Rassismus in ihrer Kindheit, ostdeutsche Deutungshoheit und über Filme, arbeitet als Autorin, Referentin und Journalistin.
Vu, Thi Nguyet Huong | Zeitzeugin 89/90+ & Beraterin für Migrant*innen in Oberschöneweide
Geboren 1964 in Hanoi, wo sie als Kleinkind den Vietnam-Krieg und amerikanische Bombenangriffe miterlebte, wurde sie 1982 ausgewählt und zum Studium in die DDR entsandt. Die »Wende« 89/90 erlebte sie an der TU Freiberg und erhielt als Studentin und Wissenschaftlerin Bleiberecht. Seit Anfang der 90er Jahre arbeitet sie als Migrationsberaterin für vietnamesische Bürger*innen und andere erwachsene Zuwander*innen bei abw gGmbH DIALOG in Oberschöneweide.
Patrice Poutrus | Historiker, Migrationsforscher & Zeitzeuge 89/90+
Geboren 1961 in der Ostberliner Charité, verbrachte Patrice Poutrus seine Schulzeit in Johannisthal, machte eine Lehre als Elektronik-Facharbeiter im WF in Oberschöneweide und studierte ab 1990 Geschichte und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Poutrus promovierte 2000 mit einer Arbeit zur Geschichte des Goldbroilers und hat aktuell ein Buch zur Geschichte des politischen Asyls im geteilten und vereinten Deutschland veröffentlicht. Momentan arbeitet er an der Universität Erfurt an einem Forschungsprojekt zu Familienerinnerungen an das Ende der DDR und die Zeit der anschließenden politischen und gesellschaftlichen Transformation in Ostdeutschland.
Moderation | Sophie Schulz
Die Veranstaltung ist Teil der Reihe forum 89/90+, die sich mit den innovativen und emanzipatorischen Potenzialen der Umbruchszeit in Ostdeutschland 89/90+ beschäftigt.